1. Eintrag:
jemanden / etwas links liegen lassen / liegenlassen
Bedeutung:
Beispiele:
- Wenn man sich links liegen gelassen fühlt, neigt man dazu, in Traurigkeit zu versinken. Ein gutes Gegenmittel ist, etwas für jemanden zu tun, der Hilfe braucht. Dadurch können sogar neue Freundschaften entstehen
- Mein Mann lässt mich seit Jahren links liegen. Was kann ich tun?
- Jeder Fünfte lässt Bioprodukte komplett links liegen
- Aktie im Fokus: Anleger lassen Innogy und RWE links liegen
- (Computerspiel:) Allerdings habe ich die Rebellen fürs erste links liegen lassen. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, meine eigene Truppe etwas aufzuwerten
- Der Nonner Steg und das Nonner Stadion dürfen jetzt nicht links liegen gelassen werden! Wir brauchen eine effektive Lösung, um diese beiden wichtigen Projekte möglichst schnell anzugehen und ein gutes Ergebnis zu erzielen
- Die Sache, mit der ich mich im Moment beschäftige, gehört zu den Dingen, die von den meisten meiner Kollegen links liegen gelassen werden
- Nicht zu vergessen, dass nach dem Finale weitere fünfhunderttausend fällig würden. Eine solche Summe links liegen zu lassen, kam fast einer Todsünde gleich
Ergänzungen / Herkunft:
Nach den Grundsätzen der körperorientierten Grammatik unterliegen Raumlagen und -angaben unterschiedlichen Bewertungen. Dabei spielen bestimmte bevorzugte Körperhaltungen, die Lage der Sinnesorgane und die Reichweite eine große Rolle: Vorne ist positiver bewertet als hinten ("hintenherum"), vertikal positiver als horizontal ("das horizontale Gewerbe") usw.
Besonders ausgeprägt ist die Rechts-links-Metaphorik, die zu äußerst vielfältigen Sprachformen geführt hat. Eine Ursache ist dabei die so genannte "Händigkeit", das heißt, der bevorzugte Gebrauch einer (meist der rechten) Hand bei allen denkbaren Verrichtungen (siehe hierzu auch "zwei rechte Hände haben"). Da Rechtshändigkeit weiter verbreitet ist als Linkshändigkeit, wird rechts sprachlich vorwiegend positiv bewertet, links dagegen negativ. Max-Planck-Forscher fanden heraus, dass Rechtshänder positive Eigenschaften mit der rechten Raumseite verknüpfen und umgekehrt. Machte man Rechtshänder vorübergehend zu "Linkshändern", indem man durch einen klobigen Handschuh die rechte Hand "ungeschickter" machte, so kehrten sich die Bewertungen bereits nach 12 Minuten um: Es stellte sich die den Linkshändern zugeordnete Tendenz "links ist gut" ein - auch bei nicht auf das Thema bezogenen Aufgaben.
Sergio Benvenuto nennt in diesem Zusammenhang das Krankheitsbild der "einseitigen räumlichen Vernachlässigung" (USN = Unilateral Spatial Neglect) Q - die oft unbewusste Nichtbeachtung der einen (meist: linken) gegenüber der anderen (meist: rechten) Seite und führt interessante Beispiele aus der neurologischen Medizin an. Bei bestimmten Verletzungen des Gehirns kann es dazu kommen, dass man den einen Teil des Gesichtsfeldes erkennt (fast immer den rechten) und den anderen dagegen nicht - und das, ohne völlig blind gegenüber der vernachlässigten Seite zu sein, sondern sie unbewusst zu ignorieren. Eine 60-jährige, gebildete Frau z. B. erlitt einen massiven Schlaganfall und wurde dadurch "nachlässig": Sie bemalte nur die rechte Seite ihrer Lippen mit Lippenstift. Die Frau, die sich dessen bewusst war, hatte einen Trick, um rechts liegende Dinge "wiederzufinden": Wenn sie einen Kuchen aß, dann nur den rechten Teil. Anschließend drehte sie sich auf einem Drehstuhl um fast 360 Grad nach rechts und "entdeckte" nun den verbliebenen linken Teil und aß davon die rechte Hälfte - um sich anschließend erneut zu drehen usw. Beim USN wird die linke Seite bei einer Verletzung der rechten Seite des Großhirns vernachlässigt - dagegen führen Verletzungen der linken Seite zu keinem "Neglect" der rechten Seite, weil die rechte Seite in der Lage ist, Funktionsverluste der linken Hemisphäre zu kompensieren. Umgekehrt gilt das nicht.
Obwohl wir also rational rechts und links als gleichwertig betrachten, gibt es einen großen emotionalen Unterschied, der demnach neurologische Ursachen hätte (und keine archaisch-kulturellen, wie lange angenommen wurde), was sich in Bräuchen, im Aberglauben und auch sprachlich niedergeschlagen hat. So gibt es in vielen Sprachen eine Lautähnlichkeit der Bedeutungen "rechts" und "richtig, redlich".
Im Deutschen gehen die Wörter "das Recht" (siehe hierzu auch "Recht haben", "im Recht sein") und das Adjektiv "recht" (im Sinne von "richtig", siehe hierzu "recht haben") auf das mittelhochdeutsche "reht" zurück - "rechts" ist der erstarrte Genitiv Singular davon. Hierher gehören auch die verwandten Wörter "richten" und "richtig", sowie zahlreiche weitere Ableitungen, wie z. B. "aufrecht", "aufrichtig", "rechtschaffen", "gerecht" (siehe hierzu "einer Sache gerecht werden") usw.
Umgekehrt findet sich die negative Bewertung der linken Seite in den Redensarten "mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden sein" und "etwas links liegen lassen", also vernachlässigen. Hierher gehören auch Ausdrücke wie "linkisch sein" (unbeholfen, ungeschickt), "link sein", "jemanden ablinken" oder "eine linke Tour".
Benvenuto spricht auch den Aspekt der politischen Ausrichtung an. Dessen Zuordnung zu rechts oder links hat zwar eine bestimmte historische Begebenheit als Ursache (siehe hierzu auch "link sein"). Bedenkt man jedoch, dass sich die politische Linke als Interessenvertreter der Armen, Schwachen und Ausgegrenzten definiert - und bedenkt man weiterhin, dass Armut gerne ausgeblendet und vernachlässigt wird, so ergibt sich auch hier eine interessante Parallele. Zum Beispiel gibt es ja auch den Spruch "Die im Dunkeln sieht man nicht". Die Rechte dagegen wird oft mit Macht assoziiert - mit den Reichen, Erfolgreichen, der Polizei usw., was sie als Identifikationsobjekt attraktiv macht. Der Linke kommt also die Aufgabe zu, den Vernachlässigten zur Aufmerksamkeit zu verhelfen: "Es ist, als versuche die Linke, ein angeborenes neurologisches Ungleichgewicht gegenüber den Rechten zu kompensieren, indem sie sich selbst als Kur anempfiehlt für diesen - in dem Fall politischen - 'Neglect' des schwächsten Teils der Gesellschaft und des Lebens" Q.
Die Wortverbindung "links" bzw. "rechts liegen lassen" findet sich zunächst in Weg- und Reisebeschreibungen, d. h. im wörtlichen Sinn, wie sie heute noch gebraucht wird: Man lässt einen Ort "rechts liegen" z. B. bedeutet, links am Ort vorbeizufahren, so z. B. 1762 bei Christian Friedrich Hempel: "... da nämlich der Feind den Ort Weidenhayn rechts liegen gelassen, und seinen Marsch durch den Wald genommen..." Q. Die bildliche Übertragung ist zuerst 1795 bei Wilhelm Tieck zu finden: "Als wenn der Lebenslauf des Weisen und des Thoren sich nicht eben dadurch am meisten unterschiede, daß dieser hin und her schweift, hier die günstige Gelegenheit rechts, dort eine andre links liegen läßt" Q. Die Festlegung auf die linke Seite fand im 19. Jahrhundert statt.
Zu "links" siehe auch "link sein"
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