1. Eintrag:
sich (selbst) neu erfinden
Beispiele:
- (Buchtitel:) Sein Leben neu erfinden. Aktive Lebensgestaltung, Angewandte Schematherapie
- Anmeldung für den Art-Coaching-Workshop: Sich selbst durch Kunst neu erfinden!
- Die EU muss sich neu erfinden oder sie wird zerfallen
- Ich wollte nur eine Auszeit nehmen, um auf andere Gedanken und neue Ideen zu kommen. Ich war einfach leer. Ich musste mich neu erfinden
- Sich selbst neu erfinden geht gar nicht so einfach, wie man denkt. Äußerlich war das leicht. Neue Haarfarbe, ein Tattoo auf den Rücken, 6 Kilo abgenommen. Das macht nach außen schon etwas her, doch wie sieht es innerlich aus?
- Das Busenwunder Pamela Anderson möchte sich neu erfinden. Es nimmt an einer Autorallye teil, die für Tierschutz wirbt und von einem Pforzheimer Bordellmillionär organisiert wird - auch der ist auf der Suche nach einem neuen Sinn
- Man erwartet vom Individuum, es möge sich doch bitte gefälligst neu erfinden - und zwar durchaus auf das Gründlichste, bis hin zum Habitus und zu jenen Attributen, die eigentlich als ureigene Ausdrucksform des Individuums gelten. Frisch umgemodelt, wird der "Sich-selbst-neu-Erfinder" zu einer Vermarktungsmaschine, er "netzwerkt" zielgerichtet und ordnet seine sozialen Beziehungen gemäß den (vermuteten) Erfordernissen ökonomischer Verwertung am Markt
- Unter dem Titel "SPD neu erfinden" kursiert unter Sozialdemokraten aus dem engeren Zirkel derzeit ein internes Papier, das schonungslos die Schwächen der Partei offenlegt und sich mit der Zukunft der schwer angeschlagenen Sozialdemokraten befasst (...) Die Sozialdemokratie muss sich ihren Platz im Parteiensystem schon selbst zurückerobern und dazu muss sie sich in gewisser Weise neu erfinden
- Die Rektoren unserer Hochschulen gehören nicht zu den Kritikern und Zauderern: Sie sehen in dieser Reform eine einmalige Gelegenheit für die Universität, sich selber neu zu erfinden und gleichzeitig die Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen sinnvoll zu fördern
Ergänzungen / Herkunft:
Beiden Bedeutungen von "erfinden" liegt der schöpferische Akt zugrunde, der menschliche Geist, der notwendig ist, um etwas Neues hervorzubringen - und diese Komponente wird auch in unserer Redewendung genutzt. Sie findet Verwendung bei Fragen des Lebensstils, des Berufes, der Lebenseinstellung (bei Menschen), aber auch in Bezug auf die Funktion, des Sinn und Zweckes im Gesamtzusammenhang (bei Organisationen). Und diese Dinge gilt es "neu zu denken", zu verändern und neu zu erschaffen. Die (ausschließlich positiv besetzte) Redensart steht damit für die Bereitschaft zum Umdenken, Flexibilität und Innovation und ist heute geradezu zu einem Modeausdruck geworden - auch zu einer Floskel, die jede einfache Anpassung als fundamental kennzeichnet und zu einem genial-kreativen Schöpfungsakt überhöht.
Den Charakter einer Redewendung erhält sie dadurch, dass sie nur in ihrer bildlichen Verwendung verständlich wird, da sie auf der wörtlich-sachlichen Ebene unsinnig ist. Sie enthält gleichzeitig ein Paradox und eine Tautologie. Eine Tautologie, weil "das Neue" im Verb "erfinden" bereits enthalten ist - "neu erfinden" und "erfinden" bedeuten das Gleiche. Ein Paradox, weil "sich erfinden" bedeuten würde: Etwas, was schon da ist, wird neu erschaffen - und zwar von sich selbst. Wenn es aber schon existiert (als Voraussetzung dafür, etwas zu tun), dann kann das Erfundene nicht etwas Neues sein. Der Schöpfungsakt des Erfindens verweist auf sich selbst und wird dadurch unlogisch. Dieser Widerspruch macht vielleicht auch den Reiz der Redensart aus und könnte der Grund dafür sein, dass sie so populär geworden ist.
Sie wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts geläufig - es gibt aber historische Vorbilder, die meist aus dem Bereich Kunst und Kultur stammen. Ein Beispiel stammt von Alain Robbe-Grillet 1963: "So wie der Mensch sein Leben ständig neu erfindet, muß auch das Theater sich immer wieder von neuem erfinden" Q.
Übrigens gibt es eine alte Bedeutung von "sich erfinden", die mit unserer Redensart nichts zu tun hat. So wurde "erfinden" auch synonym zu "finden" verwendet - "sich erfinden bedeutete demnach "sich finden, sich zeigen". Ein Beispiel hierfür finden wir 1545 in der Bibelübersetzung von Martin Luther: "DJE geburt christi war aber also gethan. Als Maria seine Mutter dem Joseph vertrawet war / ehe er sie heim holet / erfand sichs / das sie schwanger war von dem heiligen Geist" Q. Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Verwendung in diesem Sinn als veraltet bezeichnet Q
Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 1793-1801, erfinden✗
> |