1. Eintrag:
eine verkehrte Welt

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Bedeutung:
Beispiele:
- Verkehrte Welt: Vom Bikini über die Burka zum Burkini. Die Welt steht kopf, wenn die Obrigkeit nicht mehr das Minimum an Strandbekleidung festlegt, sondern das Maximum
- Negativzinsen: Eine verkehrte Welt
- Karsten Lohmeyer sieht im Leistungsschutzrecht eine verkehrte Welt: Nicht etwa Google bedient sich an den hart erarbeiteten Inhalten der Verlage. Sondern die Verlage profitieren von einer milliardenteuren Leistung, die allein Google erbringt – und das kostenlos
- Marx hielt seine Zeit für eine verkehrte Welt. Darin gediehen für ihn Religion und Staat so prächtig, weil eine verkehrte Welt ein verkehrtes Weltbewusstsein und eine verkehrte Anschauung der Welt hervorbringen
- In der Handlung zeigten sich das Leben und eine verkehrte Welt. Das Leben ist nun mal nicht so glatt und strukturiert, wie wir es im Film gerne sehen. Es ist komplex
- Die fantastischen und grotesken Prosatexte des Schweizer Schriftstellers und Kabarettisten Franz Hohler inszenieren eine verkehrte Welt, die, so lautet ein Topos der Literaturkritik, Vertrautes neu und anders erscheinen lässt
- Eine Welt, in der Seelenheil für Geld feilgehalten wird, das geistliche Amt zur Einnahmequelle verkommen und der Stellvertreter Christi der Antichrist ist, kurzum: eine verkehrte Welt - so gestaltet sich die Gegenwart des frühen 16. Jahrhunderts, folgt man dem Bild, das in der reformatorischen Polemik dieser Zeit gezeichnet wurde
Ergänzungen / Herkunft:
Ein alter Grund für den Entwurf eines "mundus inversus" oder gar "perversus" ist die Zeitklage über den angeblichen Verfall von Sitte und Kultur. Die alte und bewährte Ordnung verkehrt sich in ihr Gegenteil, die Jugend will nicht mehr vom Alter lernen, die Wissenschaft verfällt, die Welt ist auf den Kopf gestellt: Wie kann man dies anschaulich machen? Besonders das Märchen liebt es, den Schwachen über den Starken siegen zu lassen, so wie schon in der Bibel David über Goliath gesiegt hat. Halb märchenhaft, halb humoristisch wird in Fabeln und Tiergeschichten die Verkehrung der Weltordnung abgebildet: Das schwächere Tier hält Gericht über das stärkere, die Gans brät den Fuchs, der Hase den Jäger. In Fabeln und mittelalterlichen Bildern zeigt sich auch das satirische Bild vom Tierprediger: Wolf oder Fuchs stehen auf der Kanzel und predigen den Hühnern, Enten und Gänsen. Um den katholischen Glauben zu karikieren, werden Esel gezeigt, die den Rosenkranz beten. Auch in den "Carmina Burana" findet sich das Motiv als Ausdruck der Kirchen- und Glaubenskrisen des Mittelalters.
Ausgeprägter und bekannter sind die verkehrten Welten, die uns in den Entwürfen vom Schlaraffenland und der Stadt Schilda mit ihrem Schildbürgerstreichen entgegentritt. Auch Till Eulenspiegel, der Prototyp des Narren, hält - wie die gesamte Narrenzunft - dem Volk den Spiegel vor und stellt ihm seine Fehler und Unarten durch spöttische und übertreibende Nachahmung deutlich vor Augen. Gerade die Verkehrung führt zur Wirkung, das Komische und Groteske soll erzieherisch wirken über den reinen Unterhaltungswert hinaus. Der Wortwitz des Eulenspiegel und die unmöglichen Taten eines Münchhausen stellen sich so dar als die etwas volkstümlichere Variante einer satirischen Komik, die sich auch bei Autoren wie Swift, Rabelais oder Fischart durchaus in derber Form darbietet.
Die verkehrte Welt kann sich auch im Kopf eines einzelnen realisieren, der die reale Welt im Sinne seiner Wahnwelt umdeutet und ihr seine Wahrheit aufstülpt. Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt, ist dafür ein Beispiel.
Wahn und Traum sind die eine Möglichkeit, die Welt umzukehren, Aufstand und Revolution die andere. Ihre spielerische Erprobung, die Umkehrung der realen Machtverhältnisse, finden wir in den Rathauserstürmungen der Narren am Rosenmontag. Fastnacht ist als das augenfällige Fest der verkehrten Welt zu sehen, in dessen Rahmen der Arme bis zum Umfallen essen und trinken darf, der Mächtige degradiert und entmachtet, die Polizeistunde aufgehoben und der Sittenkodex gelockert wird. Als Ventil ist der Fasching den Ordnungsmächten der "normalen Welt" - Staat und Kirche - stets willkommen gewesen. Als zeitlich beschränktes Reich des Teufels zeigt der Karneval um so deutlicher, wie stabil die Herrschaftsstrukturen in Wirklichkeit sind, die sich einen quasi "einprogrammierten" Umsturz regelmäßig leisten können. Das Fest der verkehrten Welt überbrückt so den alltäglichen Überdruss am Gewöhnlichen, Gewohnten, Normalen und Geregelten, die Unlust am "grauen Alltag" wird durch bunte Verkleidung übertüncht.
Die Redensarten, die sich der Motive der verkehrten Welt bedienen, haben typischerweise die Funktion, den Abweichler zu verspotten und ihm eine Außenseiterrolle zuzuweisen. Die Redensart als solche erweist sich hier also als stabilisierend, der scheinbare Wortwitz als erzieherische Maßnahme. Zu nennen sind hier Wendungen, deren Inhalt uns schon auf römischen Wandbildern und in rhetorischen Floskeln entgegentritt, wie beispielsweise: "das Pferd hinter den Wagen spannen", "das Pferd vom Schwanz aufzäumen", "den Ochsen hinter den Pflug spannen", "zu etwas taugen wie der Ochse zum Seiltanzen" usw. Zur verkehrten Welt gehören schließlich auch alle komischen Vögel, die Sonderlinge wie der weiße Rabe und das "schwarze Schaf" sowie diejenigen, welche "die Nacht zum Tage machen" (oder umgekehrt)
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